Lokal, biologisch, partizipativ – Ein territorialer Entwicklungsansatz im Valposchiavo
Lokal, biologisch, partizipativ – Unter diesem Motto gestalten und entwickeln lokale Akteurinnen und Akteure im entlegenen bündnerischen Valposchiavo territoriale Entwicklungsstrategien mit dem Ziel, eine Bioregion zu werden. Ein Forschungsprojekt der Universität Innsbruck hat die neo-endogene Entwicklung des Bergtals untersucht.
Gastbeitrag: Paul Froning und Rike Stotten, Universität Innsbruck, Institut für Soziologie, Forschungszentrum Berglandwirtschaft
Ländliche und entlegene Bergregionen sind mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehören die Auswirkungen des Klimawandels, der demographische Wandel und vor allem die Eingliederung lokaler Gemeinschaften in globale und neoliberale Produktions- und Warenkreisläufe. Ein Weg, wie ländliche Bergregionen mit den Auswirkungen der Globalisierung umgehen können, sind lokale bottom-up Initiativen, die das sozio-ökonomischen Gemeinwohl der lokalen Bevölkerung fördern. Daher haben sich in der Regionalentwicklung in Europa in der jüngeren Zeit vor allem integrierte und territoriale Ansätze durchgesetzt, welche partizipativ diverse Akteurinnen und Akteure einbeziehen und die Gesamtentwicklung einer Region im Blick haben, anstatt nur bestimmte Sektoren zu fördern. Ein Beispiel einer solchen Ausrichtung ist die Einrichtung von sogenannten Bioregionen, welchen die umfassenden Werte und Prinzipien biologischer Landwirtschaft zu Grunde liegen, um eine nachhaltige Entwicklung der gesamten Region anzustossen.
Valposchiavo verfolgt seit nunmehr 20 Jahren einen solchen territorialen Entwicklungsansatz, der durch lokale Akteurinnen und Akteure getragen wird. Der selbst für schweizerische Verhältnisse sehr hohe Bioanteil von über 90%, sowie kurze lokale Lebensmittelwertschöpfungsketten bilden eine wichtige Grundlage für die territoriale Entwicklung. Die Marke 100% Valposchiavo für lokale Lebensmittel sowie die Entwicklungsstrategie Smart Valley Bio sind konkrete Beispiele, die bereits entwickelt wurden und die langfristige Ausrichtung der Entwicklungsstrategien deutlich machen.
Das theoretische Konzept: neo-endogene Entwicklung
Ziel der wissenschaftlichen Untersuchung war es, die Strukturen, Prozesse und Dynamiken der lokale Entwicklungsstrategien hin zur Etablierung einer Bioregion aus einer chronologischen Perspektive zu untersuchen und zu verstehen. Als theoretischen Analyserahmen wurde das Konzept der sogenannten neo-endogenen Entwicklung benutzt. Demnach beginnt territoriale Entwicklung mit bottom-up Initiativen, Projekten und Bewegungen lokaler Akteurinnen und Akteuren (-endogen) und ist durch Kooperationen und Unterstützung mit extra-lokalen Faktoren und Netzwerken verbunden (-neo). Ein wichtiger Aspekt des Konzepts ist die Nutzung lokaler Ressourcen in Verbindung mit kulturellen Eigenschaften einer bestimmten Region für die Förderung der lokalen Wirtschaft. Beispiele für diese Inwertsetzung sind traditionelle Produkte wie Lebensmittel und Gerichte, aber auch historische Gebäude und Infrastruktur oder endemische Flora und Fauna.
Für die konkrete Analyse lassen sich vier Modi unterscheiden, um die neo-endogene Entwicklung zu verstehen.
- Modus I stellt dabei die spezifischen Werte und Identitäten der Bevölkerung einer bestimmten Region heraus, die dann als Ressourcen bestimmten Produkten zugeschrieben werden. Der Mehrwert von lokalen Produkten ergibt sich aus spezifischen Merkmalen und Eigenschaften der Region.
- Modus II geht einen Schritt weiter und beschreibt, wie eine Region durch die Produktinwertsetzung eine territoriale Identität schafft und diese über die eigene Region hinaus vermarkten kann.
- Modus III wendet sich explizit den lokalen und endogenen Akteurinnen und Akteuren zu und motiviert die lokale Bevölkerung, die kulturellen und territorialen Eigenschaften der Region als etwas Positives zu nutzen, dass die lokale sozio-ökonomische Situation verbessern kann.
- Modus IV fasst die anderen Modi zusammen und beschreibt, wie die Nutzung kultureller und territorialer Ressourcen für spezifische angepasste Regionalentwicklungsstrategien genutzt werden und diese Strategien langfristig etabliert werden können.
Die Analyse des Valposchiavo
In Valposchiavo hat diese Entwicklung mit der Initiative 100% Valposchiavo ca. 2012/13 begonnen, welche lokale Akteurinnen und Akteure aus Agrarkooperativen, Politik, Tourismus und das lokale Wasserkraftunternehmen mit dem Ziel der Unterstützung und Stärkung des lokalen Agrar- und Lebensmittelsektors initiierten. Es wurde eine territoriale Marke 100% Valposchiavo im Jahre 2014 geschaffen. Dabei werden Lebensmittelprodukte zertifiziert, bei denen alle Bestandteile und Produktionsschritte entlang der Wertschöpfungskette im Tal verbleiben. Die oft traditionellen Produkte und Gerichte werden im lokalen Einzelhandel aber über eine Zertifizierung auch durch teilnehmende Restaurantbetriebe vermarktet. Durch die Zertifizierung findet eine neue Inwertsetzung und die Nutzung lokaler Ressourcen statt.
Kulturelle Eigenschaften aus Valposchiavo wie der zum Beispiel starke italienische Einfluss in der lokalen Kulinarik finden sich in Produkten wie Ravioli oder dem traditionellen Gericht Pizzocheri wieder, bei denen alle Schritte der Wertschöpfungskette im Tal verbleiben (Modus I). Der Fokus auf die Stärkung des regionalen Agrar- und Nahrungsmittelsektors findet sich auch im Projekt für regionale Entwicklung (PRE) 100% (bio) Valposchiavo wieder. Eine Gesamtvermarktungsstrategie der lokalen Produkte und eine digitale Produktplattform zum Austausch zwischen Akteuren fördert die kollektive Zusammenarbeit zwischen Landwirtinnen und Landwirten, verarbeitenden Betrieben sowie der Gastronomie im Tal. Außerdem werden Landwirtschaftsbetriebe bei der Umstellung auf biologischen Anbau unterstützt.
Während der territoriale Entwicklungsansatz in Valposchiavo praktisch vor allem den lokalen Agrar- und Nahrungsmittelsektor fördert, haben sich darüber hinaus Akteurinnen und Akteure zusammengetan und die langfristige territoriale Vision formuliert, zukünftig eine Bioregion bzw. Smart Valley Bio zu werden. Dieses Ziel wird einerseits lokal im Tal über die territoriale Marke 100% Valposchiavo und das PRE vorangetrieben. Darüber hinaus wird die weitere lokale Bevölkerung über eine partizipative digitale Karte namens community hypermap miteinbezogen, bei der Menschen ihre Perspektiven, Wünsche und Ideen der Landschaftsnutzung in Valposchiavo einbringen können (Modus II). Auch über die Grenzen von Valposchiavo hinaus werden Zusammenarbeit und Netzwerke gesucht. Dies geschieht zum Beispiel über starke Vermarktungsstrukturen lokaler traditioneller Produkte in der gesamten Schweiz, aber auch durch die Ausrichtung eines sanften Tourismusmodells, das auf kulinarische Angebote und Slow Travel setzt und damit vor allem bei Gästen aus den urbanen Regionen der Schweiz beliebt ist. Außerdem besteht ein überregionales starkes Netzwerk auf nationaler sowie auf alpenweiter Governance Ebene, das vor allem durch den lokalen Bildungs- und Regionalentwicklungsakteur Polo Poschiavo vorangetrieben wird (Modus III).
Strukturen für die Zukunft erarbeiten
Richtungsweisenden Charakter bekommen die Entwicklungsstrategien in Valposchiavo durch die langfristige Ausrichtung und der klaren Zielvorstellung einer Zertifizierung der gesamten Region als Bioregion, die bereits auf implementierten Initiativen, wie der territorialen Marke und dem PRE, aufbauen kann. Außerdem wird zurzeit in einer Multi-Stakeholder-Plattform partizipativ zum einen die lokale Regionalentwicklungsstrategie Perspektive 2040 erarbeitet und zum anderen ein Monitoring entwickelt, dass greifbare Kriterien schaffen soll, um die Zertifizierung eines Smart Valley Bio in Zukunft auch praktisch umsetzen zu können. Unklar in Valposchiavo ist bisher, wie genau die administrativ-organisatorischen Strukturen einer solchen Bioregion aussehen können. Bestehende Bioregionen in anderen Ländern werden beispielsweise an die Strukturen von Bioreservaten oder Natur-, Nationalpärken angekoppelt. So oder so, zeigt die Untersuchung des territorialen Ansatzes von Valposchiavo eine neo-endogene Entwicklung auf und kann ein Beispiel für andere entlegene Bergtäler sein. Das theoretische Konzept der neo-endogenen Entwicklung dient dabei nicht nur als theoretischer Analyserahmen, sondern kann von Kommunen und Tälern auch als praktisches Tool herangezogen werden, eine territoriale Entwicklung basierend auf lokalen und traditionellen Agrarprodukten zu initiieren.