Wohn- und Lebensraum für morgen: Modellvorhaben testen generationengerechte Ansätze
Die Altersgruppe der über 80-jährigen Menschen wird in den kommenden 20 Jahren stark zunehmen. Immer mehr von ihnen möchten möglichst lange und eigenständig in den eigenen vier Wänden wohnen. Entsprechend altersgerecht müssen diese gestaltet sein. Die laufenden Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo) zum Themenschwerpunkt «Demographischer Wandel» testen dazu innovative Lösungsansätze.
Was bedeutet aber eigentlich altersgerecht? Neben Hindernisfreiheit sind auch soziale Aspekte wichtig, da ältere Menschen ein Teil der Gesellschaft bleiben sollen. Werden sie aktiv in die Gesellschaft einbezogen und haben Kontakt mit anderen Generationen, wirkt sich dies positiv auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden aus. Die sechs Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo) im Themenschwerpunkt «Demographischer Wandel: Wohn- und Lebensraum für morgen gestalten» befassen sich mit Wohnräumen für ältere Menschen sowie damit, wie sich deren Autonomie erhalten, die Lebensqualität verbessern oder soziale Teilhabe fördern lassen. Die Projektträger der beiden hier vorgestellten Projekte teilen die Ansicht, dass Wohnungen und Areale so gebaut und bespielt werden sollen, dass sie für alle zugänglich sind und die Generationen vereinen.
Wohnen in der Experimentierhalle
Ein grosser Teil der Wohngebäude Genfs wurde in den 1950er- oder 1960er-Jahren erstellt. Damals war hindernisfreies Bauen kein Thema, heute gehört es dagegen zur Norm. Cyrus Mechkat und Bill Bouldin von m-b architectes haben eine Vision, wie das Angebot gestaltet sein sollte, damit Pensionierte möglichst lange in der eigenen Wohnung selbstständig wohnen können.
Mit dem Modellvorhaben «Ein Prototyp für vier Generationen: Wandelbares Wohnen in Genf» streben sie einen Prototyp für einen Wohnungsgrundriss an, der so flexibel ist, dass er – beispielsweise mittels verschiebbaren Wänden – für alle vier Generationen optimiert werden kann. Für die Realisierung dieser Vision gründeten sie die «Association Habitat 4 Générations» (AH4G), der Fachpersonen unterschiedlicher Disziplinen wie Architektur, Soziologie, Pflege oder Immobilienwirtschaft angehören. Der Wohnprototyp soll für alle zugänglich sein, egal welchen Alters oder in welcher gesundheitlichen und familiären Situation die Menschen sich befinden. Diese Art zugänglicher Wohnung solle das «new normal» werden. Besondere Rücksicht nehmen Bouldin und Mechkat bei der Planung auf scheinbar unauffällige Dinge, etwa die Platzierung von Stützgriffen in Duschen. Dieser Planungsansatz verspricht nicht nur Vorteile für die Bewohnerinnen und Bewohner, es sind auch wirtschaftliche und umwelttechnische Einsparungen möglich.
Die Entwicklung des Wohnprototyps startete im September mit einem partizipativen Prozess mit insgesamt fünf Veranstaltungen. Am ersten Workshop diskutierten die Vertreterinnen und Vertreter der AH4G mit interessierten Personen die Ansprüche der vier Generationen an ihre Wohnungen. Am nächsten Workshop wurde der Fokus der Diskussion auf die Gemeinschaft sowie Interaktion im Gebäude und im Quartier ausgeweitet. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden in unterschiedlichen Wohnungsgrundrissen zusammengeführt, die anschliessend getestet werden. Dazu dient ein Modell im Originalmassstab, das in einer Experimentierhalle aufgebaut wird. Es soll die Möglichkeit bieten, vorübergehend in der Wohnung zu leben und so alle Funktionalitäten zu testen. Noch ist offen, wo das Modell zu stehen kommt, denn die Suche nach einer passenden Halle läuft noch.
Zentrum für alle Generationen
Auf einem ehemaligen Spitalareal im Westen Basels erstellt die Baugenossenschaft wohnen&mehr derzeit die Überbauung Westfeld. Es entsteht ein sozial durchmischter Wohnraum mit 530 Wohnungen. Dank einem hohen Anteil an Erdgeschossnutzungen mit gut durchdachtem Nutzungsmix entsteht ein neues Zentrum, das die Identität und den Zusammenhalt im Quartier über alle Generationen hinweg stärken soll.
Gemäss Claudio Paulin, dem Co-Geschäftsleiter von wohnen&mehr, besteht das Modellhafte dieses Vorhabens im Engagement, die Nutzerinnen und Nutzer des Areals frühzeitig zusammenzubringen. Um Ideen für die Entwicklung und Gestaltung des Areals zu sammeln und abzustimmen, trafen sich die involvierten Institutionen nach einer Startveranstaltung zu regelmässigen Online-Meetings. Das Interesse am Projekt sei auch bei der älteren Bevölkerung gross. Für sie seien die Nähe zum Felix-Platter-Spital sowie die 17 Wohnungen mit Serviceleistungen im Bürgerspital sehr attraktiv.
Auf dem «Westfeld» geplant sind Frei- und Begegnungsräume, etwa ein Treffpunkt und ein Quartiergarten für alle Generationen. Diese sollen unter anderem den älteren Generationen dazu dienen, den Alltag zu gestalten, ihre Selbstständigkeit zu erhalten und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Speziell ist auch der Gemeinschaftsfonds, der von den Mietenden finanziert wird und für gemeinschaftliche Aktivitäten und Einrichtungen im «Westfeld» verwendet werden soll. So könne das Areal das Bedürfnis des Quartiers nach einem belebten Zentrum hoffentlich bald erfüllen.
Als Herausforderung erwies sich beim Modellvorhaben «Netzwerk Westfeld» bisher vor allem, bei der Bereitstellung von Flächen die Balance zu finden zwischen sozialen Nutzungen, die den Zielen des Netzwerks entsprechen, und finanziell selbsttragenden Flächen. Besonders dankbar ist Claudio Paulin für die klare Vision der Initianten Richard Schlägel und Andreas Courvoisier, die für das «Westfeld» geschaffen werden konnte. Man spüre, dass alle Beteiligten dasselbe Verständnis für das Areal hätten. Gute Visualisierungen tragen dazu bei, der Vision ein Gesicht zu geben.
Fazit: Einbezug der älteren Bevölkerung durch Angebotsgestaltung
Die Bedürfnisse der alternden Bevölkerung sind vielfältig. Die Gestaltung des Wohnraums kann dazu beitragen, dass Autonomie erhalten bleiben kann, die Generationen zusammenfinden und sich eine funktionierende Nachbarschaftshilfe entwickelt. Allerdings müssen diese Aspekte von Beginn an mitgedacht werden, was bei Neubauten am einfachsten umzusetzen ist. Die Modellvorhaben testen aber auch Optimierungen in bestehenden Wohnungen. Als eine der grössten Herausforderungen verbleibt es, Investoren und Bauträger davon zu überzeugen, die gewohnte Praxis anzupassen. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Wohnbaugenossenschaften sowie Städte und Gemeinden. Letztere haben es in der Hand, mit einer aktiven Bodenpolitik Vorgaben für die Bebauung eigener Grundstücke zu machen. Holt man alle Beteiligten frühzeitig ins Boot und zeigt die ökonomischen sowie ökologischen und sozialen Vorteile altersgerechter Bauweisen auf, könnte sie sich zum neuen Standard entwickeln.
Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo)
Der Bund fördert in der Periode 2020–2024 bereits zum vierten Mal innovative Projekte verschiedener Staatsebenen. Innerhalb von fünf thematischen Schwerpunkten werden 31 Vorhaben mit insgesamt 3,9 Millionen Franken unterstützt. Die aktuelle Periode umfasst folgende Schwerpunkte:
- Digitalisierung für die Grundversorgung nutzen
- Integrale Entwicklungsstrategien fördern
- Landschaft ist mehr wert
- Siedlungen, die kurze Wege, Bewegung und Begegnung fördern
- Demographischer Wandel: Wohn- und Lebensraum für morgen gestalten
Weitere Informationen: modellvorhaben.ch oder über den E-Newsletter Modellvorhaben. (Bestellung: Senden Sie eine E-Mail mit Vermerk «Bestellung E-Newsletter Modellvorhaben» an modellvorhaben@are.admin.ch).
Weiterführende Informationen
Publikationen Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) zum Thema «Wohnen im Alter»
Pro Senectute: Ratgeber «Altersgerechtes Wohnen»
Bild: Visualisierung Westfeld Basel © nightnurse images, Zürich